Die Adörfer |
1913 veröffentlichte Gertraud
Enderlein aus Dresden nachfolgenden Aufsatz über eine vogtländische
Botenfrau, der einen interessanten Einblick in das Leben um das Jahr 1868 in
Adorf gibt. Es war eine Zeit, in der es noch keine direkte Bahnverbindung
zwischen Plauen und Adorf gab, ein Telefon noch unbekannt war und eine
Postkutsche für so manchen keine Alternative sein konnte. Man könnte sagen,
dass die damaligen Botenfrauen und Botenmänner die Vorläufer der heutigen
Kurierdienste waren. |
„Das
Ladenglöcklein hatte schon einen schrillen scharfen Ton. Aber was war es
gegen die Stimme der Adörfer, wenn sie in den Laden
hineintrompetete: „Gustav, Gustav!“ Sie stand dabei, lang, hager, in ganz
kurzem Rock und hohen schmutzbespritzten Männerstiefeln, den schwerbepackten
Tragkorb auf dem Rücken, in der halbgeöffneten Tür, deren Messingklinkchen
sie mit starker Faust umspannt hielt und ihre hellen Augen blinkten aus dem
ovalen runzligen, von grauen Haarsträhnen und einem überm Kopf verknoteten
Vogtländertuch umrahmten Gesicht herausfordernd in den dämmrigen Raum, in dem
der kräftige Geruch der großen Leinwandballen webte. „Die
Adörfer“, sagte drinnen in der angrenzenden
Ladenstube, wo man bei der abendlichen Brotsuppe saß, der Großvater, der
damals noch ein sehr junger Großvater war, mit einem dunkelbraunen Haarschopf
über den buschigen Brauen und den blauen Augen, und stand mit einem kleinen
Seufzer auf. Obschon er nun seiner Sache ganz sicher war, schob er doch erst
das Gardinchen am Fenster der Verbindungstür, über der neben dem vergrauten
Stich des Lionardoschen Abendmahls das Glöckchen noch unermüdlich schwang,
beiseite und lugte hindurch. „Die Adörfer“, sagte
er dann abermals und ging hinaus. „Gustav“ trompetete es draußen weiter, „der
Schopper-Lob hot en Striezn fartig,
ob er’n brenge sell?“ Und da ging nun das Geschäftemachen los. Denn
die Adorfer Botenfrau - es klingt wie ein Märlein
in unserer von Suppenlärm und Propellersurren erfüllten beweglichen Zeit -
die „Adörfer“ kam jeden Freitag oder Sonnabend abend aus dem kleinen Perlmutterstädtchen unweit der
bayrischen Grenze zu Fuße nach Plauen hereingewandert, dieweil es dazumal
noch keine Eisenbahnverbindung dort hinauf gab, und vermittelte den Handel
herüber und hinüber. Also – der Schopper-Lob hatte wieder Halbbarchent (gestreifte
Leinwand) fertig, die Elle zu vierzig
Pfennig; ob der Gustav welchen haben wollte. Und „Bauerschleinwand“
hatte sie mit, in festen kleinen Röllchen in die Tiefe des Tragkorbs
verpackt. Denn da droben in und um Adorf, wo man aus den schimmernden
Perlmuscheln der Elster so zierliche Sächelchen zu schneiden wußte, Kästchen und Rähmchen und Dosen, da war auch die
Handweberei zu Hause. Man baute Flachs für den eigenen Gebrauch selber und
wob ihn auf dem ungefügen Webstuhl daheim zur kräftigen Hausmacherleinwand. Was
für ein feiner appetitlicher Duft umspann doch die Adörfer,
wenn sie so dastand und ihre Sachen auspackte. Ein Duft, den sie – die
Großmutter mit dem blanken dunklen Scheitel und die beiden Kinder – im
Ladenstübchen dermaßen unwiderstehlich zu verspüren meinten, daß es sie mit Zauberbändern hinter der Glastüre hervor
und in den nächsten Umkreis der Alten zog. Denn die Adörfer
hatte, gleichsam als Krone unter den Schätzen ihres Korbes, ein
Holzschiebekästchen darin voll kaltem Kuchen. O, man soll nie wieder so guten
kalten Kuchen gegessen haben wie den, welchen die Adörfer
da vom heimatlichen Bäcker herunterbrachte. Freilich war er, und das war für
den Großvater das Schwerwiegende, ein wenig teuer. Man wolle eben nur bedenken:
fünfzehn Pfennige das Stück. Aber die Adörfer wußte mit ihrer schrillen hohen Stimme sämtliche Bedenken
„Gustavs“ zugunsten der Großmutter niederzuschlagen. „De Weibsen wolln aa emol
wos Guts essen. Ihr Mannsen saaft
Eier Bier doch aa!“ Damit war der Streit auf
vielleicht nicht übertrieben zartfühlende, aber doch immerhin logische Art
entschieden. Da übrigens auch andere Plauensche lüstern auf dies Gebäck
waren, sodaß bei ihr der kalte Kuchen abging wie
bei anderen die warmen Semmeln, so kam sie eben auch manchmal mit leerem
Schiebekästchen und brauchte dann nicht erst vogtländische
Kraftsprüchlein anzuwenden. War
dann der Handel zu allseitiger Zufriedenheit abgeschlossen, so berichtete sie
noch, während sie sich den Tragkorb aufbuckte,
allerlei Neuigkeiten von da droben. Und wie sie berichtete! Es soll nichts
gegeben haben, was sich an Flinkheit mit dieser Art, sich mitzuteilen, hätte
vergleichen lassen. Nicht das Surren des Spinnrades, nicht das Ticken des
Werkes in Großvaters großer Repetieruhr. Unbeschreiblich soll es gewesen
sein. Also erzählte sie in ihrem breiten, schon ans Bayrische gemahnenden,
für Uneingeweihte völlig unverständlichen Vogtländisch,
daß der Heinrichs-Max den Arm gebrochen habe, wie
er auf dem glattgefrorenen Hof ausgeglitten sei, daß
die Lehmanns-Emilie den goldenen Ring, den sie sich erst in Plauen gekauft,
schon wieder verloren habe und noch allerhand. Den „Gustav“ interessierte
derlei nun außerordentlich, denn er hatte Verwandtschaft droben in Adorf und
war als kleiner Junge gar häufig dort gewesen. Und wer sich vielleicht über
die absonderliche Umgangsweise der Adörfer dem
„Gustav“ gegenüber gewundert haben mag – die alte Botenfrau hat eben den
kleinen plauenschen Jungen von frühauf gekannt und für sie blieb es bei
„Gustav“ und „Du“, auch als er längst junger Ehemann und Vater geworden. So
gern würde ich der alte Adörfer, wenn ich ihr Grab
hätte ausfindig machen können, ein paar Blumen auf den Hügel gelegt haben.
Schon deshalb, weil sie unser stilles bescheidenen Heimathaus auf der
Herrengasse allwöchentlich einmal mit dem Duft von etwas außerordentlich
Festlichen und Köstlichen, das sie im geheimnisvollen Holzkästchen ihres
Korbes barg, füllte. Ich kann es nicht. Denn – auch dieses klingt wie ein
Märlein in unserer alles durchdringenden Zeit –
ihren Namen hat nie ein Glied der Familie gewußt.
Als die „Adörfer“ kam sie all die vielen Jahre
hindurch unverzagt im Regen, Wind und Hitze mit Mannesstiefeln und kurzem
Rock den weiten Weg hereingestapft. Und als die „Adörfer“
hat sie dann auch einmal ihren letzten Botengang, und der ist viel, viel
weiter gewesen als nach Plauen herunter, angetreten...“ |
Da die Anhaltspunkte zu den
handelnden Personen zu gering sind, ist es nicht möglich, nach ihnen zu
recherchieren. Die Fragen, wer war Gustav, die Botenfrau bzw. der in Adorf
ansässige Bäcker bleiben damit unbeantwortet. Es sei denn, ein Leser dieses
Artikels erinnert sich an Berichte aus der eigenen Familiengeschichte über
eine Botenfrau nach Plauen. In früheren Zeiten war es üblich,
dass Frauen oder Männer regelmäßig Botengänge in die nähere und weitere
Umgebung anboten und durchführten. Diese beinhalteten sowohl den Transport
von Waren und die Übermittlung von Informationen. Ich erinnere mich, solche
Anzeigen im Adorfer Wochenblatt bzw. dem Grenzboten
gelesen zu haben. Ich gehe davon aus, dass man von Adorf bis nach Plauen
mindestens 7 h benötigte. Die Nutzung einer Postkutsche war hierfür
sicherlich für den einen oder anderen zu teuer bzw. hätte seinen Verdienst
geschmälert. Der Aufsatz zeigt sehr deutlich
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Zeit um 1868 und 2020. Der Weg zwischen Adorf und Plauen und
der Transport von Waren bzw. der Austausch von Informationen erfolgt heute
viel schneller und unkomplizierter. Für die Vermittlung von Geschäften wird
heute wie damals ein guter Außendienstler benötigt, der bei Wind und Wetter
bei potentiellen Kunden in der Tür steht und die Vorzüge seiner Waren
erfolgreich anpreisen kann. Das Argument, dass die Männer ihr Bier auch
trinken, ist auch heute schwer zu entkräften. Frauen in kurzen Röcken und
Männerstiefel gibt es weiterhin. Sicherlich war der damalige kurze Rock mit
den heutigen nicht zu vergleichen. Ich vermute, dass dieser damals mindestens
handbreit unterhalb des Knies endete. Heute würde eine Frau für diese
Tätigkeiten mit Sicherheit Hosen tragen. Das „Gustav, Gustav!“ ist vielen
Männern auch heute wohl bekannt. Wenn
ihr jeweiliger Name laut und deutlich durch die Wohnung bzw. das Haus schallt,
ist es höchste Zeit, die Zeitung zusammen zu falten bzw. sich vom Computer zu
trennen. Gestreifte Leinwand und
Perlmutterwaren aus Adorf gibt es nicht mehr. Lecker Kuchen aus dem oberen
Vogtland wird dagegen auch heute noch in Plauen gerne gegessen. Für 15
Pfennige ist er nicht mehr zu bekommen. Kennen Sie Frauen, die schneller
erzählen als ein Spinnrad surren kann bzw. in Windeseile eine Nachricht in
das Smartphone tippen können? Gönnen Sie sich mal wieder ein gutes
Stück Kuchen aus Adorf und reden mit Ihrer Frau in Ruhe über Ihre nächsten
Aufgaben. |
Vielen Dank an Anselm für den Hinweis
zu diesem Text. Klaus-Peter Hörr September 2020 |