Lederfabrik F. Aug. Müller & Comp.

 

Eines der ältesten Gewerbe in Adorf ist das Gerberhandwerk bzw. das Gerbereigewerbe. Es siedelte sich früh im Bereich der Mehltau, dem sogenannten Sand an. Hintergrund hierfür wird die Lage am Wasser gewesen sein, welches für das Gerberhandwerk benötigt wurde.

 

Oberlehrer Bruno Günther hat vor ca. 100 Jahren zu so vielen heimatgeschichtlichen Themen geforscht und publiziert. Zum Thema Gerbereigeschichte von Adorf habe ich bisher keine längere Abhandlung von ihm gefunden. Umfangreicheres Material hierzu ist im Bestand Adorf im Historischen Archiv des Vogtlandkreises zu finden. Es reicht viele Jahrhunderte zurück. In diesem dürften sowohl viele interessante Informationen zur Geschichte des Gerberhandwerks aber auch der Stadtgeschichte zu finden sein. Voraussetzung für die Erschließung dieses Materials ist die Fähigkeit des Lesens der alten Handschriften. Bruno Günter hat vielfach bewiesen, dass er dies konnte. Vielleicht taucht eine entsprechende Abhandlung hierzu bei weiteren Recherchen doch noch auf.

 

In alten Fabrikanten-, Lieferanten- oder Adressbüchern fand ich folgende Eintragungen betr. der Gerber von Adorf:

 

- Fabrikantenadressbuch 1875 : F. A. Müller, Lohgerber, R. Müller, Gerberei

- Adressbuch Königreich Sachsen 1878:  Biedermann, F. A. Haller, F. A. Müller, F. G. Müller,

   A. R. Müller, H. L. Müller, F. G. Pfretzschner

 

 

- Adressbuch Königreich Sachsen 1884: F. A. Müller, L. Müller

- Adressbuch Königreich Sachsen 1893: Georg Grässel, Rob. Lots, F. A. Müller, F. G. Müller,

  H. L. Müller

 

 

Adressbuch Adorf 1896:

-        Gräßel, Georg, Elsterstr. 13

-        Lots, Robert, Sand 9

-        Müller, Friedrich Aug., Altstadt 7

-        Müller, Gottlob, Sand 546

-        Müller, Oskar, Elsterstr.

 

 

Adressbuch Adorf 1904:

-        Gräßel, Robert Georg,  Elsterstr. 15

-        Lots, Robert, Sand 9

-        Müller, August Robert, Sand 8

-        Müller, Friedrich August, Oelsnitzer Str. 7

 

 

Schuh und Leder-Adressbuch des Deutschen Reiches 1928:

- Robert Gräßel, gegr. 1874 Elsterstr. 8, Fabrikation Zahmsohlleder alter Grubengerbung mit

  Eichensohle

- Robert Müller, gegr. 1830, Am Sand 5/68

- F. A. Müller & Co.

 

Bei den Adressbucheintragungen ist davon auszugehen, dass nicht immer zwingend alle Gerbereien am Ort eingetragen wurden. Die Anschriften haben sich oft ohne einen Umzug geändert.

 

Dass Bruno Günther sich zumindest teilweise mit dem Gerbereigewerbe von Adorf beschäftigt hat, beweisen seine Ahnentafeln und Familienstammbäume zu diesen Familien, aber auch einige Abschnitte und Hinweise zu diesen in anderen Texten.

 

Bruno Günther erstellte zum Beispiel nachfolgende Stammtafel der Gerberei Müller in der Oelsnitzer Straße von Adorf.

 

·       Veit Müller

 

Gerber am Sand,

nach 1542 aus Leubetha nach Adorf gezogen

·       Valtin Müller

Gerber am Sand, † 12.6.1629

·       Johannes Müller der Ältere           

Lohgerbermeister, *29.10.1580 † 1662                                                        

·       Johannes Müller der Jüngere  

Bürger und Rotlohgerber

*04.02.1619 † 26.04.1696

·       Adam Müller

Bürger und Rotlohgerber                                                            *27.01.1649  † 30.07.1726

·       Hans Heinrich Müller  

Rotlohgerber *18.08.1686  † 30.12.1774

·       Johann Georg Müller

Rotlohgerber *08.05.1727  † 06.03.1800                                                     

·       Georg Adam Gottfried Müller

Bürger und Rotlohgerber

*05.12.1757  † 5.10.1803

·       Christian Gottlob Müller

Bürger und Rotlohgerber                                                             *10.07.1791  07.09.1852

gründete 1817 die Lederfabrik in der

Oelsnitzer Str. 13             

·       Friedrich August Müller

Lohgerbermeister *04.03.1832  † 10.04.1901

·       Christian Friedrich Aug. Müller

Lohgerbermeister und Stadtrat

*29.10.1855  † 05.08.1915

·       August Max Müller

Lohgerbermeister *26.03.1878  † 28.12.1921

·       August Hermann Müller 

Lohgerbermeister und Kaufmann                                                              * 11.12.1886    03.03.1962

·       Hermann Helmut Müller                 

Lohgerbermeister                                                                           *16.10.1920  06.03.1998

 

Das Gerberhandwerk war über Jahrhunderte eine körperlich schwere und langwierige Arbeit mit vielen Fertigungsschritten. Eine frische Rinderhaut konnte schon mal 40 kg und mehr wiegen und musste per Hand vielfach bearbeitet und bewegt werden. Die Arbeiten fanden oft im Freien oder in nassen und kühlen Räumen statt. Begleitet wurde alles vom typischen Geruch der Gerbereien. Die Häute wurden nach der Anlieferung gewässert, gereinigt, enthaart, vom überflüssigen Bindegewebe an der Unterseite befreit, gefärbt und über mehrere Schritte gegerbt, gewaschen, getrocknet geglättet und genarbt. Alle diese Arbeitsschritte wurden per Hand an einer ca. 40 kg schweren Rinderhaut gemacht. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die körperlich schwere Arbeit durch den Einsatz der Dampfmaschinen, durch Pumpen und weiteren technischen und chemischen Hilfsmitteln erleichtert und der technologische Herstellungs- und Veredlungsprozess von teilweise über einem Jahr erheblich verkürzt. Manch technischer Fortschritt ging zu Lasten der Qualität oder der Umwelt. So gibt es heute strenge Regelungen beim Einsatz von Chrom VI bei der Lederbearbeitung und ein Verbot als Inhaltsstoff.

Das Leder als Naturprodukt wird heute vielfach von „Kunstledern“ abgelöst, die meist in ihren Eigenschaften dem Naturleder ebenbürtig und preiswerter sind. Das Naturleder hat die Eigenschaft, nicht an jeder Stelle die gleichen Eigenschaften zu haben und in verschiedene Zonen nach qualitativen und optischen Kriterien eingeteilt zu werden. Ein großer Teil der Kunden akzeptiert nicht, dass ein Naturprodukt unterschiedliche Eigenschaften hat und bevorzugt ein makelloses „Kunstleder“, welches als Rollenware geliefert wird und an jeder Stelle die gleichen Eigenschaften hat bzw. haben sollte.

 

In einem Text von Bruno Günter aus dem Jahre 1938 über die Elster finden wir nachfolgende Aussagen von ihm betr. des Gerberhandwerks.

 

„..Noch heute blüht in Adorf das alte Lohgerberhandwerk, das seine Werkstätten an der Elster hat. Während die Weiß- und Sämischgerber, die eine eigene Innung bildeten, infolge der besonderen, mit chemischen Mitteln arbeitenden Herstellungsart ihres Leders (aus Schaf-, Kalb- und Ziegenfellen) weniger auf das Flußwasser angewiesen waren- sie wohnten meist in der oberen Stadt- wohnten alle Rotlohgerber auf der linken Seite der Elster am Sand, wo die kleine Fußgängerbrücke hinüber in die Karlsgasse führt, dann an der Elsterstraße bis zur mittleren Mühle und in der alten Stadt bei der Brücke und bei der unteren Mühle. Die Rotlohgerber gerbten nur Ochsen- und Kuhhäute. Der Fluß diente zum Einweichen der Felle, ihre Arbeit wurde deshalb als „Flußarbeit“ bezeichnet. Auch zum Auswässern wurden die mehrere Jahre in den großen Lohgruben gelagerten Felle in den Fluß gehängt.

Durch Jahrhunderte hat sich bis jetzt Handwerksbrauch nach altüberlieferten Formen und Rezepten in den Gerberfamilien vom Vater auf den Sohn vererbt. Bekannte Gerberfamilien waren die Adler, Götz, Haas, Haller, Heckel, Hertel und Pfretzschner. Eine Familie aber betreibt noch heute in Adorf das Handwerk, das ist die Familie Müller, die schon vor 400 Jahren Gerber auf dem Sand waren. Ihr Stammhaus stand an der Stelle des Hotels „Blauer Engel“. Die Müller sind die älteste vogtländische Gerberfamilie, in der das Handwerk durch Generationen bis zur Gegenwart betrieben wird. 1680 sind sieben Gerberwerkstätten in Adorf, heute (1928) sind es noch vier (Rob. Müller, F. Aug. Müller, Rob. Gräßel und Rob. Lots). Adorfer Sohlleder ist sehr beliebt, genießt doch das altgegerbte Leder einen gewissen Vorzug vor dem chemisch schnell gegerbten. Die reiche Lederproduktion fand früher zum großen Teil Absatz am Orte selbst, wo die vielen Schuhmacher (1681: 16 selbständige Meister) das Leder verarbeiteten und die Fuhr- und Handelsleute fertiges Leder und Lederwaren in alle deutschen Lande brachten. Viele Familiennamen unserer Gegend (Gerber, Lederer, Löscher, Scheerbaum u. a.) deuten auf die Namensgebung von diesem alten Handwerk hin.

Neben der heutigen Müllerschen Gerberei auf dem Sand befand sich die Pfretzschnersche, aus der Christian Gottlieb Pfretzschner, der Plauener Rektor, stammt. Zwischen beiden Gerbereien befand sich seit 1815 das Malzhaus der brauenden Bürgerschaft, das heute als Lagerhaus für Lohe und Gerbstoffe dient…“

 

An anderer Stelle schreibt Bruno Günther, dass ein Zweig der Müllergerber nach Petersburg/ Russland zog und dort eine Niederlassung errichtete.

 

Wie oben bereits erwähnt und auf Briefbögen festgehalten, wurde das Unternehmen F. A. Müller & Co. im Jahre 1817 von Christian Gottlob Müller gegründet. Der Namensgeber für die Fa. F. A. Müller wird aber erst sein Sohn Friedrich August Müller gewesen sein.

Die Spezialität des Unternehmens war das „Zahmsohlleder alter Grubengerbung“.

Die beiden unten aufgeführten Warenproben belegen eindrucksvoll die damalige Lederqualität für verschiedene Produkte. Wer solche Ledersohlen in 3 oder 5 mm Stärke hatte, musste nicht so schnell zum Schuhmacher. So mancher Schuh aus heutiger Produktion hat beim Verschleiß der Laufsohle seinen Lebenszyklus beendet. Sie sind schlicht und ergreifend nicht für eine Reparatur konzipiert. Nachhaltigkeit geht anders.

Leider ist nicht erkennbar, wann und wofür die Silberne Medaille auf dem Stempel vergeben wurde.

 

Muster 5 mm stark

 

 

 

 

 

Muster 3 mm stark

Die heute noch stehenden Gebäude an der Oelsnitzer Str. 13 wurden in den Jahren 1893/94 errichtet.

 

 

Aufnahme März 1990 mit Nachbarhaus „Deutsches Haus“

In der Nacht zum 6. Februar 1893 hatte die Gerberei F. Aug. Müller & Comp. unfreiwillig eine heiße Nacht. Im benachbarten Gasthaus „Deutsches Haus“, welches heute nicht mehr vorhanden ist, brach ein Feuer aus. Hierzu ist nachfolgender Bericht überliefert.

 

„In der Nacht zum Montag gegen 1 Uhr brach in den an der Oelsnitzer Straße in Adorf gelegenen Gasthaus „Deutsches Haus“, in welchem bis Nachts 12 Uhr Tanzvergnügen stattgefunden hatte, Feuer aus. Der Gasthof, meistens aus Fachwerk erbaut, bot dem Feuer reichlich Nahrung. Das Feuer erfaßte auch das an den Gasthof stoßende Wohngebäude des Gerbereibesitzers F. A. Müller. Der Umstand, dass sich in diesem Hause auf dem Boden große Ledervorräthe befanden, sowie weiter, dass auch eine anstehende Scheune mit reichlichen Erntevorräthen noch vom Feuer ergriffen wurden, bereitete anfänglich den zahlreichen erschienenen Feuerwehren große Schwierigkeiten. Einige Spritzen  waren bald, nachdem sie in Thätigkeit gesetzt worden waren, eingefroren und mußten deshalb bei Seite gestellt werden. Das Wohnhaus des Spediteurs Erdm. Schuster, welches eine starke Brandmauer besitzt, konnte durch die eifrige Thätigkeit der Adorfer Feuerwehr erhalten bleiben. Es gelang ferner, die der Müller’schen Gerberei gegenüberstehende sogenannte “Unterelbmühle“ erfolgreich zu schützen. Die Adorfer freiwillige Feuerwehr hielt es für erforderlich, zwei hölzerne Häuser abzutragen. Der ganze Brandplatz umfaßte über 1 Acker Land (ca. 5.500 qm).“

 

Laut dem obigen Bericht über den Brand im Jahre 1893 betrieben die Müller-Gerber im Nebenerwerb auch eine Landwirtschaft. Es war vor über 100 Jahren keine Seltenheit, dass viele Bürger neben ihrem Haus auch noch Wald-, Wiesen- oder Ackerflächen besaßen und diese selber bewirtschafteten oder verpachteten. Die Erträge dienten zur Absicherung des Lebensunterhalts oder zur Generierung zusätzlicher Einkommen.

 

Laut Informationen aus dem Internet wurde in der Gerberei F. A. Müller & Co. im Jahre 1894 eine Dampfmaschine aus der Maschinenfabrik Theodor Wiedes aus Chemnitz installiert. Wurde somit die Brandversicherungssumme in ein neues Gebäude und moderne Technik investiert?

Schaut man in den Katalog für Leder- und Gerbereiwerkzeuge der Fa. PET. ARN. ALTENA aus Remscheid Hasten, kann man eindeutig sehen, dass um 1900 die Gerberei und Lederverarbeitung noch in weiten Teilen ein Handwerk war, für welches auch entsprechende Handwerkzeuge benötigt wurden.

 

 

Wann die Gerberei F. Aug. Müller und Comp. ins Handelsregister von Adorf i. V. eingetragen wurde, kann bisher nicht mit Sicherheit gesagt werden. In einer Übersicht der Handels- und Gewerbekammer Plauen ist diese im Jahre 1900 noch nicht aufgeführt, im Jahre 1903 aber enthalten.

Ins Handelsregister wurde am 23. Juli 1910 eingetragen, das Max und Hermann Müller als Geschäftsführer in die Gesellschaft eingetreten sind. Der Namensgeber für die Firma war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Dem aufmerksamen Leser wird auffallen, dass im Handelsregister die Firmierung „F. Aug. Müller & Comp.“ genannt wird und auf o. a. Briefbogen „F. Aug. Müller & Co.“ steht. Es ist möglich, dass dies einmal geändert wurde und die alten Formulare aufgebraucht wurden.

 

 

Am 30. Juni 1922 wurden nachfolgende Veränderungen im Handelsregister eingetragen:

 

Johanne Friederike verw. Müller geb. Adler und der Lederfabrikant Max Müller scheiden aus dem Unternehmen aus. Neu eingetreten sind die Erben von Max Müller, Martha Ella Müller, geb. Lots und die minderjährigen Martha Ilse Müller und August Max Fredo Müller.

 

Interessant, dass Johanne Friederike verw. Müller geb. Adler erst am 30. Juni 1922 im Handelsregister gestrichen wurde. Sie starb bereits am 6. Mai 1919. Da gab es bestimmt eine längere Erbauseinandersetzung. Max Müller wurde im Handelsregister gestrichen, da er am 28.12.1921 verstorben ist. Martha Ella Müller geb. Lots stammte aus der Gerberfamilie Lots. Auch hier haben wir einen Beleg dafür, dass es durchaus zwischen Mitbewerbern familiäre Verbindungen geben kann. Max Müller und Martha Ella Lots hatten im Dezember 1904 geheiratet.

 

 

Am 22. September 1924 vermeldete das Amtsgericht Adorf, dass die auf Blatt 172 des Handelsregisters eingetragene Firma F. Aug. Müller & Comp. aufgelöst ist und Kaufmann Hermann Müller das Handelsgeschäft unter der bisherigen Firma fortführte.

 

 

Nachfolgender Eintrag ins Handelsregister Adorf belegt, dass Martha Ella Müller, geb. Lots sich neu mit einem Herrn Tänzer verheiratet hatte.

 

 

Im Adressbuch von 1925 findet sich ein Pfarrer Karl Tänzer unter Kirchplatz 8 in Adorf. Ob es der neue Ehemann von Martha Elle geb. Lots war, kann bisher nur vermutet werden.

 

Dass die Gerber auch eine Portion Humor besaßen, belegt nachfolgende Speisefolge anlässlich des 50. Jubiläums des Verbandes sächsischer Gerber e. V. am 14.10.1929 in Freiberg. 

 

 

Als es dann zu Tisch ging, war der Spaß vorbei. Dort lautete die Speisefolge

·      Schwedisches Vorgericht

·      Doppelte Kraftbrühe

·      Prager Mastgans mit Rotkraut und gemischter Salat

·      Westfälische Bombe und Käseplatte, Waffeln

·      Weine nach der Karte

Dem aufmerksamen Leser wird auffallen, dass es weder Rinderbraten, Sauerbraten oder ein Steak gab. War das für einen Gerber ein „NO-GO“? 

 

Auch im Historischen Archiv des Vogtlandkreises fand ich Hinweise dafür, dass die Müller-Gerber Geschäftsbeziehungen bis nach Russland hatten. Diese belegen, dass Adam Gottlieb Müller und seiner Frau Sophie Carlotte geb. Dehn in St. Petersburg in der Zeit zwischen 1825-1845 mindestens sechs gemeinsame Kinder bekommen haben. Die Schreibweise von Sophie Charlotte geb. Dehn unterscheidet sich in den Urkunden sowohl im Vornamen als auch im Geburtsnamen.

 

Besagter Adam Gottlieb Müller wurde am 25. April 1800 in Adorf geboren und war das siebente Kind vom Bürger und Rotlohgerber Johann Adam Müller und der Johanne Magdalena Hertelin (Hertel). Eine Auswertung der Adorfer Kirchenbücher ergab, dass dieser „Müllerzweig“ bei Adam Müller geb. 27.01.1649 von der obigen Stammtafel abzweigt.

Zumindest einige Mitglieder auch dieses Zweiges waren weiterhin in Gerber-, Sattler oder Schuhmacherberufen tätig. Somit könnte der Spruch „Alles Müller oder was?“ schon viel älter sein als angenommen. Vom Rindsleder ist es auch nicht so weit bis zur Milch oder zum Quark.

Interessant wäre es zu wissen, ob die damals in St. Petersburg geborenen Kinder auch weiter in Russland gelebt haben und dort einen neuen russischen Zweig der Familie gründeten.

 

Neben dem in Adorf produzierten Leder mit Grubengerbung gab es in der Vergangenheit und eventuell auch heute noch in manchen Teilen der Welt ganz spezielle exotische Leder.

Am 4. November 1930 berichtete der Adorfer Grenzbote unter der Überschrift „Reptilienhaut auf dem Markt. 500.00 Schlangen, 750.000 Alligatoren, eine Millionen Eidechsen Opfer der Mode.“ wie folgt:

 

„Seit sich die Frauenmode für das Leder von Reptilien entschieden hat, sind für diese Tiere schlimme Zeiten angebrochen. Aber das Unglück der von der Mode auf den Schild gehobenen neuen Lederlieferanten ist den Eingeborenen zum Glück ausgeschlagen, die in entlegenen Weltgegenden, wie in Mittelamerika, Indien, auf Borneo, in Siam, auf Java, leben. Ihnen hat sich hier eine neue gewinnbringende Erwerbsquelle erschlossen. Wird doch der Jahresverbrauch der amerikanischen Gerber, die den Markt des zum Leder verarbeiteten Rohmaterials beherrschen, zur Zeit auf 500.00 Schlangen, 750.000 Alligatoren und eine runde Million Eidechsen geschätzt.

In der Hauptsache ist es der Ferne Osten, der den Gerbereien die Häute der Eidechsen liefert, die sich zur Lederverarbeitung am besten eignen. Hier sind es wieder die Landeidechsen, die Wassereidechsen aus Indien und die javanischen Ringelechsen, die ihre Haut zu Markte tragen müssen. In Indien sind alle Familienmitglieder der niederen Kasten mit dem Fang von Landeidechsen beschäftigt. Wenn sie eine Höhle ausfindig gemacht haben, warten sie geduldig, bis das Tier den Kopf heraussteckt und töten es dann. Sechs Monate später paradiert die sorgsam abgezogene, entsprechend appretierte und gefärbte Haut bereits in den Straßen einer Stadt, die vom Ursprungsort durch die halbe Welt getrennt ist.

Bei Wassereidechsen ist die Fangtechnik eine ganz andere. Diese überaus fruchtbaren Reptilien treten in den „Sunderbands“, dem von Dschungel und Kanälen durchzogenen Sumpfgebiet des unteren Gangesdelta, in Massen auf. Es sind harmlose Tiere, die in Java als Haustiere gehalten werden und sich dort einer Beliebtheit erfreuen, wie bei uns die Katzen. Sie töten Ratten und kleine Schlangen und leisten damit wertvolle Dienste. Deshalb hat man jetzt auch auf Java die Zahl dieser Echsen, die zum Zwecke der Häuteverwertung getötet werden dürfen, gesetzlich begrenzt.

Diejenigen Tiere, die zur Befriedigung des Modebedürfnisses gefangen werden dürfen, werden am Schwanz in der Luft herumgewirbelt, bis sie bewußtlos geworden sind und dann von den Eingeborenen durch einen Schlag auf den Kopf erlegt. Die Häute werden entweder im Schatten bis zur Knochenhärte getrocknet oder für die Konservierung einer oberflächlichen Gerbprozedur unterworfen oder zum Zweck der Verschiffung eingesalzen. Die endgültige Bearbeitung erfolgt dann im Bestimmungshafen.

Eine Laune der Natur hat es gefügt, dass die Schlange, deren Haut sich für die Lederfabrikation als

am brauchbarsten erweist, harmlos ist. Es handelt sich um die Wasserschlange oder die „Karung“, die auf Java, Borneo und in Siam weit verbreitet ist. Im Gegensatz zu anderen Schlangen, die sich durch erbrütete Eier fortpflanzen, bringen die Wasserschlangen bis 24 lebende Junge auf einmal zur Welt, die in etwa sechs Wochen ihre volle Länge von 1-3 Meter erreichen. Die Eingeborenen fangen die Wasserschlangen zumeist, indem sie sich über den Rand der Flußufer beugen und die auf der Nahrungssuche vorbeigleitenden Schlangen mit einem blitzschnellen Griff der Hand fassen. Angesichts der steigenden Nachfrage nach dem Schlangenleder hat man in neuester Zeit in verschiedenen Gegenden diese primitive Fangmethode aufgegeben und bedient sich zum Fang heute der Schleppnetze.

Nicht alle Reptilien dürfen sich einer Haut rühmen, die auf dem Ledermarkt geschätzt wird. Zu den minderbegehrten  gehören vor allen die Riesenschlangen im allgemeinen; gleichwohl aber findet die Haut der Königsschlange, der giftigsten aller Schlangen, gelegentlich Verwendung und findet den religiösen „Tabu“ zum Trotz in nicht geringer Zahl ihren Weg auf die internationalen Handelsmärkte. Das „Tabu“, das diese als heilig verehrte Schlange schützt und ihr einen Platz in jedem Tempel sichert, ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb man über die Methode ihres Fanges in Unkenntnis bleibt.

Im Naturhaushalt sind übrigens die großen Wassereidechsen die erfolgreichsten Vertilger der gefürchteten Kobra. Infolgedessen hat, seit den Eidechsen sehr eifrig nachgestellt wird, auch die Zahl der Menschenleben, die den Giftzähnen der Kobra zum Opfer fallen, in so verhängnisvollen Maß zugenommen, dass sich die Regierung genötigt sieht, eine Schonzeit festzusetzen und die Zahl der Eidechsen, die gejagt werden dürfen, zu beschränken.

Die Natur hat den meisten Reptilien ein schönes Kleid mit auf den Weg gegeben, dessen Schönheit allerdings im ursprünglichen Zustand nicht voll zur Geltung kommt, weil die Pracht unter den Schlammfarben, die sie verhüllen, unsichtbar ist. Es bleibt dem Geschick des Gerbers überlassen, das Naturprodukt je nach der gewünschten Lederart zu vervollkommnen, durch ein umständliches Appreturverfahren, das 18 verschiedene Prozeduren umfaßt. Trotz des leichten Gewichts liefern die Häute von Eidechsen und Schlangen ein Leder, das widerstandsfähiger ist als alle bekannten Ledersorten, ganz gleich, wie dick diese sind. Was das Färben betrifft, so hat es der Bearbeiter in der Hand, die unsichtbaren dunklen Pigmente zu beseitigen und durch zarte Schattierungstöne vermittels Anilinfärbung zu ersetzen, ohne dabei die natürliche Farbe der Haut zu zerstören.“

 

Interessant zu lesen, wie um 1930 im Interesse der Mode Reptilien in großem Umfange gejagt und verarbeitet wurden und damit das ökologische Gleichgewicht gestört wurde. Aus der damaligen Sichtweise war dies sogar für die „Eingeborenen“ eine gute Möglichkeit ihre Einkommenssituation zu verbessern. Der Einsatz von Fellen und Häuten ist im Modebereich heute sehr eingeschränkt und umstritten.

 

Manchmal komme ich zum Schluss, dass es sinnvoller wäre, etwas besonnener zu sein als sofort vom Leder zu ziehen.

 

Klaus-Peter Hörr

Oktober 2024